Es gibt Erlebnisse, die vergißt man nie

„Es gibt Erlebnisse, die vergißt man nie, auch nicht nach 60 Jahren. Ich bin 1929 in Hilden geboren, dort aufgewachsen und erst vor neun Jahren nach Düsseldorf gezogen. Die Zeit des Faschismus habe ich in Hilden als Junge miterlebt. In der sogenannten „Kristallnacht“ vom 9. bis 10. November 1938 wurden in Hilden jüdische Geschäfte zertrümmert und sechs jüdische Mitbürger ermordet. Ihre Namen lauten: Carl Herz, Eugenie und ihr Sohn Ernst Willner, Nathan Meyer, Berta Meyer, Dr. Siegmund Sommer und seine nichtjüdische Hausangestellte Hendrike Grüber. Am Morgen nach dem Pogrom flüsterten sich Nachbarn und Bekannte die Nachrichten über diese Morde zu. Der alte Herz war von Nazis, die in seine Wohnung eingedrungen waren, durch 16 Messerstiche umgebracht worden. Frau Willner und ihren Sohn hatten die Pogromhelden in ihren Garten geschleppt und ihnen dort auf einem Hauklotz mit der Axt den Schädel eingeschlagen. Wie die Meyers umkamen, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, daß die Praxisräume von Dr. Sommer völlig verwüstet wurden. Er, seine Frau und seine Hausangestellte beschlossen, sich zu vergiften. Nur Frau Sommer konnte noch gerettet werden. Offen wagte niemand, darüber zu reden. Doch mancher Bürger, und darunter nicht nur Nazis, äußerte unverhohlen sein Einverständnis mit dem Verbrechen. Am Nachmittag nach dem Pogrom ging ich mit anderen Jungen zur Mittelstraße. Dort waren die jüdischen Geschäfte völlig zerstört worden. Polizisten hielten Wache, um die Leute am Plündern zu hindern. Es sah furchtbar aus. Zwei Wochen nach diesen Ereignissen wurde Hilden Garnisonsstadt. Das 64. Flakregiment zog in die neuerbaute Waldkaserne. Wir Schulkinder mußten zur großen Parade der Truppen aufmarschieren, Spalier bilden, Hakenkreuzfähnchen schwenken und „Heil“ rufen. Ich erinnere micht gut, daß die Flaksoldaten oft in Kompaniestärke durch die Mittelstraße zogen und sangen: „Krumme Juden ziehn dahin, daher. Sie ziehn durchs rote Meer. Die Wellen schlagen zu, Die Welt hat Ruh!“ In unserer Volksschule hatte ich einen Mitschüler, der sich keine Daten merken konnte. Wenn er von der Lehrerin nach Ereignissen aus dem Jahr 1938 gefragt wurde, sagte der Kurt immer: „Das war damals, als sie alle die Juden kaputt gemacht haben.“ Nach der Niederlage des Faschismus wurde 1947-48 den Hildener Judenmördern der Prozeß gemacht. Der Hauptangeklagte Jupp Buchbinder, früher SA-Sturmführer, erhielt lebenslänglich Zuchthaus, andere Mitschuldige kamen mit Gefängnisstrafen davon. Die Angeklagten verhielten sich vor Gericht feige, beschuldigten sich gegenseitig oder versuchten die Schuld abzuschieben. Niemand wollte mehr etwas mit dem Pogrom zu tun haben. Der Nazi-Ortsgruppenleiter von Hilden, Hein Thiele, wurde im Prozeß gegen die Pogromhelden freigesprochen. Der Großbauer hatte den Hinterbliebenen der Opfer 1938 ihren ganzen Besitz für ein Butterbrot abgekauft und auch später alles behalten. Vor etwa 30 Jahren ist Thiele als einer der reichsten Männer Hildens gestorben. Der Schriftsteller Manfred Franke aus dem benachbarten Haan hat vor 25 Jahren einen Roman über die Hildener Pogromnacht mit dem Titel „Mordverläufe“ geschrieben. Namen und Orte hat er geändert. Das Buch erlebte zwei Auflagen und ist im Buchhandel noch erhältlich. Anfang der 70er Jahre las Franke im Hildener Bonhöffer-Gymnasium aus seinem Werk. Es war viel Hildener Prominenz anwesend, darunter auch Leute, die während der Nazizeit eine große Rolle in der Stadtverwaltung gespielt hatten. Franke erhielt keinen Beifall. Als er am Schluß erklärte, er wolle auf sein Honorar verzichten und das Geld für einen Fonds zur Förderung der Beziehungen zwischen Ausländern und Hildener Bürgern zur Verfügung stellen er hoffe dabei auf Unterstützung durch die Zuhörer, rührte sich niemand im Raum.“ Winfried Lierenfeld aus *UZ* unsere zeit, Zeitung der DKP, Nr. 46 vom 13. November 1998

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