NRW ist immer noch ein Industrieland

NRZ 10.01.2008 von FRANK STENGLEIN f.stenglein@nrz.de UMWELT. Das Drama um die Bayer-Pipeline zeigt die ganze Hilflosigkeit der Politik. Konfrontiert mit Emotionen traut sich kaum jemand zu sagen, dass Produktion ohne jede Belastung eine Illusion ist. Seit über 150 Jahren lebt die Region an Rhein und Ruhr mit der Industrie. Alles in allem geht es ihr nicht schlecht dabei. Die wirtschaftlich ungesunden Monostrukturen sind in NRW überwunden, doch noch immer bieten Stahl, Chemie und Energie unersetzliche gewerbliche Arbeitsplätze in sechsstelliger Höhe – gut bezahlte, wohlgemerkt. Und doch: Im Verhältnis zwischen den Bürgern und der Industrie ist etwas kaputt gegangen, schleichend, aber unaufhaltsam. Während vor Jahrzehnten jede Kritik an den belastenden Schattenseiten als Nestbeschmutzung abgetan wurde, gilt inzwischen das andere, genauso falsche Extrem: null Toleranz ohne Rücksicht auf (Job-)Verluste. Aktuelles Beispiel: Das Ringen um die Bayer-Pipeline von Krefeld nach Dormagen, die, obwohl wirtschaftlich notwendig, am erbitterten Widerstand der Anlieger zu scheitern droht. Sicher: Industrie – das ist auch heutzutage nicht immer zum Blümchen pflücken. Es raucht, es stinkt, es wird mit gefährlichen Stoffen gearbeitet, und zweifellos lauern hier Restrisiken. Gegenüber dem, was vor 50 oder gar 100 Jahren hingenommen wurde, erscheinen die Belästigungen zwar als sehr überschaubar, aber maßgeblich sind eben die heutigen Toleranzschwellen. Und Hand aufs Herz: Wer würde schon jubeln, wenn in unmittelbarer Nähe seines Hauses eine Kohlenmonoxid-Röhre verlegt würde? Dass dies unterirdisch in 1,40 Meter Tiefe geschieht, dass Bayer für die Sicherheit mehr tut als das Gesetz verlangt, dass die chemische Industrie generell einen stetig gewachsenen Sicherheitsstandard aufweist und der Staat darüber wacht – all das sollte nicht ganz unter den Tisch fallen.Ein Unfall ist demnach extrem unwahrscheinlich, aber natürlich nicht völlig ausgeschlossen – wie nichts auf dieser Welt. Damit sollte, damit muss eine Industriegesellschaft leben können, sonst ist sie keine mehr, sonst dürfte kein Flugzeug fliegen und kein Auto fahren. Neben dem Recht des Einzelnen auf ein Leben ohne jede Behelligung, gibt es noch andere Interessen, die im Konfliktfall gegeneinander abzuwägen sind. Dazu zählte das Recht, eine Industrieproduktion zu betreiben und zeitgemäß auszubauen, dazu zählt vor allem auch die damit verbundene Sicherung von Arbeitsplätzen.Das Oberverwaltungsgericht Münster hat der Genehmigungsbehörde jüngst aufgetragen, noch genauer zu definieren, weshalb die Bayer-Pipeline neben den Firmen-Interessen auch jenen des Industriestandortes NRW dient und warum deshalb sogar Enteignungen statthaft sein sollen. Dieser Nachweis ist in der Tat wichtig. Um die technische Sicherheit der Anlage ging es ausdrücklich nicht. Diese ist nach Recht und Gesetz und nach dem Stand der Technik nicht zu beanstanden.Unter normalen Umständen müsste dies eigentlich beruhigen. Doch ist mit Besonnenheit in den betroffenen Gemeinden buchstäblich kein Staat mehr zu machen. Das hängt auch mit Kommunalpolitikern zusammen, die die Sorgen der Bürger nicht etwa versachlichen, sondern schüren und überhöhen. Anders kann man es nicht nennen, wenn ein Bürgermeister von einer „Todeszone“ spricht. Erst 2006 hatte der NRW-Landtag einstimmig das Pipeline-Gesetz beschlossen. Inzwischen sind die Grünen nachträglich auf den Protest-Zug gesprungen, was zwar peinlich, aber wohl in der Partei-DNA angelegt ist. Der eigentliche Skandal: CDU, FDP und SPD haben die Dinge mehr oder weniger treiben lassen, ohne beherzt in die Diskussion einzugreifen. Die Landesregierung scheint erst jetzt aufzuwachen, und auch die sonst so lauten Gewerkschaften waren lange merkwürdig passiv.All dies wirkt wie ein Kniefall vor Emotionen. Wenn das weiter Schule macht, dann gute Nacht Industriestandort NRW. Quelle: NRZ

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert